1996… KunstBlick

KunstBlick, 1996-1999.

Neun Elemente gründen KunstBlick als „Kommunikativen Ort“

1 Fernrohr

2 Zeltplatz

3 Aussichtsturm

4 Abfallkorb

5 Sitzmöglichkeit

6 Feuerstelle/Grillplatz

7 WC/Öffentliche Toilette

8 Kunstwerk

9 Anlegestelle

Zu Fernrohren und Standpunkten der Dagmar Schmidt

Johannes Stahl, 1999

Gehört das Fernglas wirklich zur touristischen Grundausstattung, mit der die unvertraute Umgebung noch unmittelbarer erlebt werden kann – ebenso wie der dazugehörige Fotoapparat das Erlebnis konserviert? Ist es überzogen, wenn sich an der – konstruktionsbedingten – Tatsache, daß Fernrohre (und Mikroskope) runde Bilder und der durch die Kamera rechteckige ergeben, Interpretationsansätze zur Weltsicht festmachen wollen? Fest steht, daß die Geräte zur Intensivierung der optischen Erlebniskultur unterliegen einer hohen Wertschätzung, und es stellt sich die Frage, ob der Blick durchs Gerät das Leben grundsätzlich ändert oder nur das Erlebnis. Und warum ist der Tourismus als gesellschaftlicher Umstand zwar oft Nährboden, aber selten Gegenstand künstlerischer Arbeit?

Dagmar Schmidt benutzt das gute, nahezu zur Ikone gewordene Instrument des Münzfernrohrs, um auf vorsichtige Weise die Wahrnehmung für touristische Orte ins Rotieren zu bekommen. Dabei mischt sie sich erstaunlicherweise an touristisch vergessenen und dennoch möglicherweise zukunftsträchtigen Gestaden mitten in Deutschland ein, an Saale und Elbe. Nach einer Feuer-Performance, städtebaulichen Projekten und vom technischen Medium geprägten Zeitverlaufs- und Reisebildern konzipiert sie als künstlerisches Vorhaben ein touristisches Entwicklungsprojekt: all das läßt auf einen ausgeprägten strategischen Humor schließen.

KunstBlick „Kommunikative Orte“
Projekt für Sachsen-Anhalt,
Realisierung in Halle (Saale), Heine-Park und in Magdeburg, Skulpturenpark
des Museums Kloster Unser Lieben Frauen

Da steht nun ein Fernrohr in gemessener Distanz zu den Skulpturen neben dem Magdeburger Museum Kloster Unser Lieben Frauen, und lädt für eine Mark zur Benutzung ein: Erwarten Sie kein Fernrohr, sondern eine optische Überraschung! Der mit dem Fernrohr angepeilte Ort läßt sich zwar ins Visier nehmen, aber er erscheint vielfach zerlegt, drehbar das Ganze und multipliziert wie mit einem Kaleidoskop. Auf technischer Ebene vollzieht sich genauso wie auf inhaltlicher eine hintersinnige Manipulation von Bildern und Erwartungen. Die Fernrohre sind nur Kundschafter und Botschafter für eine Kette von „kommunikativen Orten“, an und mit denen sich die Bildende Kunst Raum für die Zukunft sichert. Es sind nicht in erster Linie die besonders spektakulären bereits erschlossenen Touristenziele, sondern Orte, an welchen Touristen erst zu erwarten sind – oder sein könnten. Mit Fernrohr, Aussichtsturm, Zeltplatz, Toilettenhäuschen, einer Bank, Bootsanlegestelle, Kochgelegenheit und Abfallkorb ausgestattet, könnten sie ein unabhängiger Ort sein, an dem das so oft angestrebte gesellschaftliche Ziel eines kleinen unabhängigen Kosmos (man denke nur an Jahrmärkte, Schrebergärten oder Ferienkolonien) eine konkrete Form bekommt. Und gemeint ist nicht nur der künftig eben wegen seines touristischen Entwicklungspotentials möglicherweise umstrittene Ort, sondern auch die Struktur des Erlebnisses beim künftigen Publikum: gibt es fremde Einflüsse oder hat das Erlebnis die Chance, ganzheitlich zu werden? Gehört es der Freizeit an oder dem Alltag?

Das neunte Element dieser „kommunikativen Orte“ ist ein Kunstwerk! Dabei spielt es bedeutsamerweise zunächst keine tragende Rolle, welches Kunstwerk konkret gemeint ist, denn an Kunstwerken besteht kein Mangel, sondern Überschuss. Allerdings sind die Orte, an denen eine solche Arbeit plaziert werden könnte, rar geworden. Und mit ihnen ist auch ein gehöriges Maß jener selbstverständlichen Liebe geschwunden, die öffentlich zugänglichen Kunstwerken entgegengebracht wird: gemeint ist weniger der materielle Vandalismus, sondern die Kultur des Übersehens in einer optischen Überflußgesellschaft – sind es doch nach Marcel Duchamp die Betrachter, die das Kunstwerk vollständig machen. An dieser Stelle geht Dagmar Schmidts Arbeit mit leichter Hand über das hinaus, was an heutigen Konzeptionen für die meist traurige „Kunst im öffentlichen Raum“ diskutiert wird. Ihr kleiner Kosmos der „kommunikativen Orte“ erzeugt eine selbstverständliche und unabhängige Situation, in der ein Kunstwerk wieder normal existieren kann.

Das eigentümliche Vehikel der Fernrohre ist als Keimzelle der „Kommunikativen Orte“ ein Instrument in vielschichtiger Weise. Es ermöglicht einen manipulierten Ausblick, eine Wahrnehmung des Orts, die optisch zerstreut ist und inhaltlich gerade dadurch an Kontur gewinnt: Für den Besucher sind touristische Ziele Wahrnehmungsorte nicht nur von Postkartenansichten, sondern auch für sich selbst. Mit der Ruhe des rundum Versorgten, kann sich ihm jene Erwartung erfüllen, die immer wieder zum Reisen antreibt: die Neugier auf anderes – und der Wunsch, selbst auch Teil dieses anderen zu sein.

Johannes Stahl , Köln

Aus: Stahl, Johannes (Hg), 1999: Verlängerte Frohe Zukunft. Die Ausstellung zum Projekt Kunst____Sachsen-Anhalt, S. 130-32

Merchandising Stempelspiel KunstBlick, 1999 (Unikat): Neun Elemente für einen KunstBlick Kommunikativen Ort